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Ausschluss ordentlicher Kündigungen in Tarifverträgen und Altersdiskriminierung

Die Auslegung einer tarifvertraglichen Sonderkündigungsschutzregelung kann ergeben, dass der Ausschluss ordentlicher Kündigungen nicht gilt, falls er bei der Sozialauswahl zu einem grob fehlerhaften Auswahlergebnis führen würde. (BAG, Urteil vom 20.06.2013, 2 AZR 295/12)

 

Sachverhalt:

Der Kläger unterfiel dem § 4.4 Manteltarifvertrag für Beschäftigte zum ERA-Tarifvertrag Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern vom 14.06.2005, wonach das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet und mindestens 3 Jahre im Betrieb beschäftigt war, ordentlich nicht mehr kündbar ist. Der Arbeitgeber und spätere Beklagte in dem Kündigungsschutzverfahren kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich mit Auslauffrist sowie hilfsweise ordentlich. Gegen diese Kündigung richtete sich die Kündigungsschutzklage des Klägers.

 

Die außerordentliche Kündigung scheiterte bereits daran, dass der Beklagte im Prozess seiner Darlegungslast nicht nachgekommen war, da bei der außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung – anders als bei der ordentlichen betriebsbedingten Kündigung – neben dem Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses auf dem alten Arbeitsplatz des Arbeitnehmers ebenso unmittelbar vom Arbeitgeber dargelegt werden müsse, dass überhaupt keine Möglichkeit mehr bestehe, das Arbeitsverhältnis – und sei es zu geänderten Bedingungen nach entsprechender Umschulung – sinnvoll fortzusetzen.

 

Zur Begründung der ordentlichen Kündigung vertrat der Arbeitgeber den Standpunkt, dass die tarifliche Sonderkündigungsschutzregelung dem Lebensalter im Verhältnis zur Betriebszugehörigkeit eine zu große Bedeutung beimesse und daher rechtsunwirksam und unanwendbar sei.

 

Hinsichtlich dieses Argumentes urteilte das BAG, dass die tarifvertragliche Sonderkündigungsschutzregelung ein grundsätzlich zulässiges Ziel, nämlich die Sicherung von Arbeitsplätzen älterer Mitarbeiter, verfolge und daher nicht per se rechtsunwirksam sei.

 

Allerdings wäre die Regelung des § 4.4 MTV nicht mehr durch ein legitimes Ziel im Sinne von § 10 Satz 1 AGG gedeckt, wenn sie zur Konsequenz hätte, dass Arbeitnehmer, die älter als 53 Jahre und länger als drei Jahre im Betrieb beschäftigt sind, bei der Sozialauswahl selbst dann aus dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer ausscheiden, wenn dadurch das Ergebnis der Sozialauswahl grob fehlerhaft würde. Die Regelung würde dann zu einer den gesetzlichen Vorgaben der Sozialauswahl widersprechenden Verdrängung insbesondere jüngerer Arbeitnehmer aus dem Betrieb führen. So könnte sie etwa bewirken, dass ein 50 Jahre alter, seit 25 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer, der zwei Personen zum Unterhalt verpflichtet ist, seinen Arbeitsplatz zugunsten eines seit drei Jahren beschäftigten, 53 Jahre alten, nicht unterhaltsverpflichteten Arbeitnehmers verliert. Ein derartiges Ergebnis wäre im Hinblick auf die gesetzlichen Vorgaben zur Sozialauswahl in § 1 Abs. 3 – 5 KSchG sachlich nicht zu rechtfertigen.

 

Tarifliche Unkündbarkeitregelungen müssten deshalb, um sich in der Auswahlsituation als angemessen im Sinne des § 10 Satz 1 AGG sowie gesetzes- und verfassungskonform im Sinne von § 1 Abs. 3 KSchG, Art. 12 Abs. 1 GG zu erweisen, gewährleisten, dass sie zumindest grobe Auswahlfehler vermeiden.

 

Die tarifliche Regelung, in diesem Fall § 4.4 MTV, sei in den konkreten Fällen, in denen die Anwendung der Vorschrift zu einer grob fehlerhaften Sozialauswahl führen würde, verfassungs- und gesetzeskonform einschränkend auszulegen und entgegen ihrem Wortlaut daher nicht anwendbar.

 

Es empfehle sich daher, bei einer Sozialauswahl zunächst sämtliche Mitarbeiter – unabhängig von einem bestehenden Sonderkündigungsschutz – in die Sozialauswahl einzubeziehen. Stünde aufgrund der allgemeinen Sozialkriterien der Mitarbeiter mit Sonderkündigungsschutz ohnehin nicht zur Kündigung an, wäre mit der Anwendung des Sonderkündigungsschutzregelung eine Diskriminierung nicht verbunden. Stünde dagegen aufgrund der normalen Sozialkriterien der Mitarbeiter mit Sonderkündigungsschutz „eigentlich“ zur Kündigung an, könnte er sich auf den tariflichen Ausschluss der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berufen. Der Arbeitgeber könnte statt seines Arbeitsverhältnisses dasjenige eines sozial stärkeren geschützten Arbeitnehmers jedenfalls dann nicht kündigen, wenn damit ein grob fehlerhaftes Auswahlergebnis verbunden wäre. Der Arbeitgeber vermöchte in dieser Situation also womöglich weder den tariflichen geschützten noch den von § 1 Abs. 3 KSchG geschützten Arbeitnehmer im Wege der ordentlichen Kündigung zu entlassen. Lägen die Voraussetzungen des § 626 BGB vor, käme dagegen nur die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des tariflich vor der ordentlichen Kündigung geschützten Arbeitnehmers in Betracht. Auf diese Weise könnten sowohl grobe Fehler bei der Sozialauswahl als auch die (Teil-)Aufhebung des tariflichen Schutzes vor ordentlichen Kündigungen vermieden werden.

 

Bewertung der Entscheidung:

Das Urteil stellt einen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung des BAG dar. Das eherne Gesetz, dass ordentlich unkündbare Mitarbeiter zwingend nicht in eine Sozialauswahl einzubeziehen sind, wird hiermit aufgegeben. Dies mag im Sinne größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit wünschenswert sein, der Rechtssicherheit dient diese Rechtsprechung dagegen sicherlich nicht. Die Frage, ab wann eine Sozialauswahl „grob fehlerhaft“ ist, ist gesetzlich nicht klar definiert, so dass eine rechtssichere Sozialauswahl in Massenentlassungskonstellationen bei (teilweisem) tarifvertraglichem Ausschluss ordentlicher Kündigungen künftig noch schwieriger wird.

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