Arbeitsrecht

Sie wollen mehr zum Fachbereich "Arbeitsrecht" erfahren?
» mehr erfahren

Arbeitsrecht

Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit infolge Alkoholabhängigkeit

Wird ein Arbeitnehmer infolge seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank, kann in der Regel nicht von einem schuldhaften Verhalten i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) ausgegangen werden. Auch im Falle eines „Rückfalls“ wird ein schuldhaftes Verhalten im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinne in der Regel nicht festzustellen sein.

BAG, Urteil vom 18.03.2015 – 10 AZR 99/14

 

Sachverhalt und Entscheidung:

Die Klägerin war eine gesetzliche Krankenkasse. Ihr Mitglied, der Arbeitnehmer L., war seit 2007 bei der Beklagten beschäftigt. Am 23.11.2011 wurde der alkoholabhängige L. mit einer Alkoholvergiftung bei völliger körperlicher und geistiger Bewegungslosigkeit in ein Krankenhaus eingeliefert und intensivmedizinisch behandelt. Er war zunächst bis zum 15.01.2012 krankgeschrieben. Der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) diagnostizierte in einem medizinischen Gutachten vom 14.05.2013, dass L. an einer langjährigen, chronischen Alkoholkrankheit leide mit den dafür typischen Folgeerkrankungen. Der MDK stellte darüber hinaus mit seinem Gutachten fest, dass der Vorfall vom 23.11.2011 nicht willentlich durch L. hätte verhindert oder vermieden werden können. Ein Selbstverschulden sei daher auszuschließen.

Mit Schreiben vom 28.11.2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Gegen die Kündigung erhob L. Kündigungsschutzklage. Arbeitnehmer L. und die Beklagte einigten sich im Kündigungsschutzverfahren auf eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2011.

Die Klägerin machte mit Schreiben vom 19.07.2012 Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht für den Zeitraum vom 29.11.2011 bis zum 31.12.2011 gegenüber der Beklagten geltend. Diese lehnte eine Zahlung ab und war der Auffassung, L. habe die Krankheit selbst verschuldet i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG.

Das BAG hat der Klägerin den Anspruch zuerkannt und festgestellt, dass Arbeitnehmer L. für die Zeit vom 29.11.2011 bis 31.12.2011 Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG gehabt habe.

Nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG habe ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert sei, ohne dass ihn ein Verschulden treffe. Dabei sei nach inzwischen allgemeiner Auffassung anerkannt, so das BAG, dass es sich bei einer Alkoholabhängigkeit um eine Krankheit i.S.d. EFZG handele. „Schuldhaft“ i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG handele nur derjenige Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstoße. Erforderlich sei insoweit ein grober oder gröblicher Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten. Aus der sprachlichen Fassung des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG folge zudem, dass das Risiko der Unaufklärbarkeit der Ursachen einer Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit und eines möglichen Verschuldens des Arbeitnehmers daran beim Arbeitgeber liege.

Nach diesen Maßstäben könne im konkreten Einzelfall weder aus der Alkoholabhängigkeit des L. selbst, noch aus deren Entstehen ein „Verschulden“ i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG für damit unmittelbar in Zusammenhang stehenden Arbeitsunfähigkeitszeiten abgeleitet werden, so das BAG. Der Ausbruch einer Alkoholkrankheit beruhe auf einer multifaktoriellen Genese. Dies bedeute, dass es sich bei einer Alkoholkrankheit um eine multikausale, interaktive Entwicklung handele. Zu dieser würden, neben dem Faktor Alkohol selbst, u.a. die genetische Prädisposition, die individuelle psychische Disposition, das psychosoziale Umfeld einschließlich der Herkunftsfamilie und die sozialen Lebensbeziehungen bis hin zu religiösen Einflüssen beitragen. Es könne daher den heutigen medizinischen Erkenntnissen nicht entnommen werden, dass der willensgesteuerte Anteil beim Entstehen der Alkoholsucht derart im Vordergrund stehe, dass er als vorsätzliches oder besonders leichtfertiges Verhalten i.S.v. § 3 Abs. 1 EFZG gewertet werden könne.

Auch im Falle eines sogenannten „Rückfalls“ werde ein solches Verschulden in der Regel nicht feststellbar sein. Dies sei – so das BAG – zwar im konkreten Fall nicht auszuschließen, müsse allerdings mit entsprechendem Vortrag und Bestreiten des Arbeitgebers aufgeklärt werden.

 

Bewertung der Entscheidung:

Die Entscheidung des BAG stellt eine Änderung der Rechtsprechung dar. Bislang ging das BAG davon aus, dass bei einem „Rückfall“ stets von einem „Verschulden“ i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG auszugehen war mit der Folge, dass der Arbeitnehmer für den betreffenden Zeitraum keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung hatte. Diese Auffassung hat das BAG nunmehr aufgehoben. Dies bedeutet für Arbeitgeber, dass die Konsequenz des „Lohnentzuges“ im Falle alkoholbedingter Arbeitsunfähigkeit zukünftig schwierig durchzusetzen sein dürfte, und zwar auch im Falle eines „Rückfalls“ des Arbeitnehmers.

 

Praxisfolgen:

Zwar hat das BAG auch festgestellt, dass im konkreten Einzelfall sehr wohl ein Verschulden des jeweiligen Arbeitnehmers gegeben sein kann. In einem solchen Fall, darauf weist das BAG zutreffend hin, müsse das „Verschulden“ i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG jedoch durch ein fachmedizinisches Gutachten aufgeklärt werden, welches genauen Aufschluss über die willentliche Herbeiführung des Rückfalls gebe. Dieser Aufwand dürfte vielen Arbeitgebern – nicht zuletzt aufgrund einer nicht unerheblichen, damit einhergehenden Kostenbelastung – zu hoch sein.

Anschrift

Hafenweg 8, 48155 Münster
Postfach 3410, 48019 Münster
Parkmöglichkeiten in hauseigener Tiefgarage

Kontakt