Wird ein schwerbehinderter Mensch, der sich auf eine von einer Behörde ausgeschriebenen Stelle beworben hat, nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, so ist dies grundsätzlich ein Indiz für die Vermutung einer Benachteiligung wegen seiner Behinderung, wenn seine Bewerbung erfolglos geblieben ist. (BAG, Urteil vom 22.08.2013, 8 AZR 563/12, juris).
Sachverhalt:
Der mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 schwerbehinderte Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 27.05.2010 für eine vom beklagten Land auf ein Jahr befristet ausgeschriebene Stelle (Elternzeitvertretung). Seiner Bewerbung fügte er neben seinem Lebenslauf diverse Zeugnisse und auch eine Kopie eines Schwerbehindertenausweises bei. Nachdem zunächst einige Bewerber von der beklagten Behörde zu Vorstellungsgesprächen am 12.07.2010 eingeladen worden waren, wurden weitere Vorstellungsgespräche – vornehmlich mit schwerbehinderten Bewerbern – für den 19.07.2010 geplant. Aufgrund einer einvernehmlich mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Personalrat und der Frauenbeauftragten getroffenen Entscheidung wurden dann allerdings nicht alle Schwerbehinderte für den 19.07.2010 geladen, wovon auch der Kläger betroffen war. Mit Schreiben vom 26.07.2010, das mit „Im Auftrag“ von einer Auszubildenden unterschrieben war, wurde dem Kläger mit näheren Ausführungen mitgeteilt, dass die Behörde sich bei der Besetzung der Stelle nicht für ihn entschieden habe. Darauf hin verlangte der Kläger schriftlich vom beklagten Land am 10.08.2010 eine Entschädigung in Höhe von 5.816,37 € (= 3 Bruttomonatsgehälter) mit der Begründung, das beklagte Land habe ihn trotz Befähigung für eine ausgeschriebene Stelle nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Da die Stellenbesetzung am 10.08.2010 aber noch nicht abgeschlossen war, setzte die Behörde den Kläger mit Schreiben vom 18.08.2010 davon in Kenntnis, dass es sich bei der an ihn gerichteten schriftlichen Absage vom 26.07.2010 nur um ein Missverständnis und Büroversehen gehandelt habe und dass das Auswahlverfahren fortgesetzt werde. Gleichzeitig wurde der Kläger zu einem am 25.08.2010 stattfindenden weiteren Vorstellungsgespräch eingeladen. Mit Anwaltsschreiben vom 23.08.2010 ließ der Kläger der Behörde mitteilen, dass er bezweifle, dass das Auswahlverfahren tatsächlich fortgeführt werde. Weil er – was tatsächlich zutraf – aus gesundheitlichen Gründen für den 25.08.2010 bereits Dispositionen getroffen habe, könne er an diesem Tag nicht an dem Vorstellungsgespräch teilnehmen. Auf ein weiteres Schreiben der Behörde, mit dem der Kläger zu einem weiteren Vorstellungsgespräch am 08.09.2010 eingeladen wurde, reagierte der Kläger nicht. Es stellte sich nachträglich heraus, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen auch am 08.09.2010 nicht an einem Vorstellungsgespräch hätte teilnehmen können. Nach Erstellung eines Auswahlvermerks und ordnungsgemäßer Beteiligung des Personalrats besetzte die Behörde die Stelle mit einem schwerbehinderten Bewerber, der wie der Kläger ebenfalls zunächst ein Ablehnungsschreiben erhalten hatte, dann aber – ohne einen Entschädigungsanspruch geltend gemacht zu haben – an dem Vorstellungsgespräch am 25.08.2013 teilgenommen hatte und dann die Stelle bekam.
Mit seiner am 09.09.2010 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger seinen Entschädigungsanspruch damit begründet, dass er wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden sei. Es stelle bereits ein Indiz für seine Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung dar, dass die Behörde ihrer Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nicht nachgekommen sei. Das könne durch die nachgeholte Einladung nicht geheilt werden.
Nachdem das Arbeitsgericht eine Entschädigung in Höhe von 1,5 Bruttomonatsgehältern zugesprochen hat, wurde die Klage auf die Berufung des beklagten Landes durch das Landesarbeitsgericht insgesamt abgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren mit Erfolg weiter.
1.
Das BAG führt zunächst aus, das beklagte Land habe durch die nicht erfolgte Einladung des scherbehinderten Bewerbers gegen die Vorschrift des § 82 Satz 2 SGB IX verstoßen. Dadurch habe der Bewerber sowohl hinsichtlich des später eingestellten Bewerbers als auch hinsichtlich der vor seiner Absage zu Vorstellungsgesprächen eingeladenen weiteren Bewerber eine Benachteiligung erfahren. Eine solche Benachteiligung liege schon darin begründet, dass der Kläger faktisch nicht in die Auswahl einbezogen worden sei. In dem durch das Absageschreiben der Behörde vom 26.07.2010 erfolgten Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren liege die Benachteiligung damit letztlich in der Versagung einer Chance.
2.
In diesem Zusammenhang stamme das Absageschreiben der Behörde vom 26.07.2010 aus der Verantwortungssphäre des beklagten Landes. Jeder Arbeitgeber müsse sich eben so organisieren, dass die gesetzlichen Pflichten zur Förderung schwer behinderter Bewerber erfüllt würden. Auf ein Verschulden oder gar eine Benachteiligungsabsicht komme es für das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs grundsätzlich nicht an.
3.
Ob das beklagte Land allerdings dem schwerbehinderten Kläger „wegen“ seiner Behinderung weniger günstig behandelt habe, konnte das BAG wegen der vom LAG vorgenommenen Feststellungen nicht entscheiden, weshalb es die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückwies.
4.
Dem Landesarbeitsgericht gab das BAG allerdings folgendes mit auf den Weg:
Der Kausalzusammenhang zwischen der benachteiligenden Behandlung und dem Merkmal der Behinderung sei bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an die Behinderung anknüpfe oder durch diese (mit-)motiviert sei. Dabei reiche es aus, dass das verpönte Merkmal Bestandteil eines Motivbündels sei, welche die Entscheidung beeinflusst habe.
a)
Die in § 22 AGG enthaltene Beweislastregelung wirke sich gleichzeitig auch auf die Darlegungslast aus. Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genüge danach seiner Darlegungslast, wenn er Indizien vortrage, die seine Benachteiligung wegen eines unzulässigen Merkmals vermuten ließen. Das sei bereits dann der Fall, wenn die vorgetragenen Tatsachen – aus objektiver Sicht und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit – darauf schließen ließen, dass die Benachteiligung zumindest auch wegen jenes Merkmals erfolgt sei. Bestünde eine derartige Vermutung für die Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, trage nach § 22 AGG die beklagte Arbeitgeberin die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz von Benachteiligung vorgelegen habe.
b)
Die gem. § 82 Satz 2 SGB IX unterbliebene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch spräche nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls dann für das Vorliegen einer Benachteiligung wegen der Behinderung, wenn für die Annahme, dass dem Bewerber die fachliche Eignung ganz offensichtlich fehle, keine Anhaltspunkte ersichtlich seien.
c)
Diese Vermutungswirkung kann nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall rückwirkend nicht dadurch zum Wegfall gebracht werden, dass der Bewerber nach der ersten Ablehnung zwei Einladungen zu Vorstellungsgesprächen erhielt. Die Möglichkeit, diesen Verfahrensfehler nachträglich zu heilen, sehe das Gesetz schon nicht vor und es könne auch nicht vom Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden. Eine solche nachträgliche Heilung wäre zudem mit der Struktur des AGG und insbesondere mit den dort geregelten strikten Fristenregelung nicht vereinbar.
d)
Bei der – vom LAG noch durchzuführenden – Prüfung, ob die durch das Indiz der Nichteinladung ausgelöste Vermutung der Benachteiligung des schwerbehinderten Bewerbers wegen seiner Schwerbehinderung durch das beklagte Land im Sinne des § 22 AGG „widerlegt“ oder „entkräftet“ sei, bestehe ein „Beurteilungsspielraum“ für das LAG. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO gelte sowohl für die Frage, ob die vom Bewerber vorgetragenen Hilfstatsachen den Schluss darauf zulassen, er sei wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals abgelehnt worden.
e)
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gelte aber auch für die Frage, ob die vom Arbeitgeber seinerseits vorgebrachten Tatsachen den Schluss darauf zuließen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz von Benachteiligungen vorliege.
Ließen nach alledem die festgestellten Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten, müsse der Arbeitgeber durch seinen Vortrag das Gericht davon überzeugen, dass die Benachteiligung nicht (zumindest auch) auf der Behinderung beruhe. Der Arbeitgeber müsse also Tatsachen und Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergebe, dass es ausschließlich andere Gründen waren als die Behinderung, die zu der Benachteiligung geführt haben. In dem Motivbündel des Arbeitgebers dürfte am Ende die Behinderung weder als Negatives noch die fehlende Behinderung als positives Kriterium enthalten gewesen sein. Das BAG weist in der Entscheidung darauf hin, dass es in diesem Zusammenhang auch möglich und zulässig sei, aus späteren Verhaltensweisen des Arbeitgebers bzw. der für den Arbeitgeber handelnden Personen Rückschlüsse darauf zu ziehen, dass in dem zur Benachteiligung führenden „Motivbündel“ keine diskriminierenden Elemente enthalten gewesen sind.
Bewertung der Entscheidung:
Der Entscheidung ist zuzustimmen. Man kann den Behörden nur dringend raten, schwerbehinderte Bewerber auf jeden Fall zum Einstellungsgespräch zu laden, wenn für die Annahme, dass dem Bewerber die fachliche Eignung ganz offensichtlich fehlt, nicht klare Anhaltspunkte ersichtlich sind.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zeigt einen Trend auf, die die Instanzenrechtsprechung bereits aufgegriffen hat.
Das Landesarbeitsgericht Hamm hat mit Urteil vom 19.12.2013, 17 Sa 1158/13, einen Entschädigungsanspruch eines schwerbehinderten Bewerbers, der ebenfalls von einer Behörde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war, verneint. Der dortige Kläger hatte sich auf eine ausgeschriebene Stelle des beklagten Kreises beworben, nachdem er sich zuvor mit dem Land Nordrhein-Westfalen, das sein Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt hatte, vor dem Arbeitsgericht auf die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gegen Abfindungszahlung verständigt hatte. Das Landesarbeitsgericht Hamm war in der Entscheidung vom 19.12.2013 der Auffassung, die Vermutungswirkung sei vom beklagten Kreis widerlegt worden. Anknüpfungspunkt für die Nichteinladung des Klägers war nach der Überzeugung des LAG weder seine Schwerbehinderung, noch fehlende fachliche Eignung gewesen. Von seiner Einladung habe der beklagte Kreis vielmehr deshalb abgesehen, weil das notwendige Vertrauen aufgrund der Vorgänge im Zusammenhang mit der Auflösung des zuvor bestehenden Arbeitsverhältnisses zwischen dem Kläger und dem Land Nordrhein-Westfalen nicht bestehe. Es erkannte in diesem Zusammenhang eine besondere nähere Beziehung zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem beklagten Kreis.
Diese Entscheidung spricht Bände.