Ein Arbeitnehmer macht mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage – zum Beispiel in der Form einer Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage – die vom Ausgang des gerichtlichen Verfahrens abhängigen Vergütungsansprüche „gerichtlich geltend“ und wahrt damit die zweite Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist. Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinen 3 Entscheidungen vom 19.09.2012 seine bisherige gegenteilige Rechtsprechung aufgegeben.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2012, 5 AZR 627/11
(Parallelentscheidungen des BAG vom 19.09.2012 zu den Az. 5 AZR 628/11 und 5 AZR 924/11)
Sachverhalt:
Der klagende Arbeitnehmer war auf der Grundlage eines bis zum 31.01.2008 befristeten Arbeitsvertrages bei dem beklagten Arbeitgeber beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die tariflichen Regelungen des Rahmentarifvertrages für die Arbeitnehmer der Industrie der Steine und Erden im Land Hessen Anwendung. Dieser Rahmentarifvertrag enthält eine doppelstufige Ausschlussfrist, wonach die Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von 2 Monaten nach der Fälligkeit schriftlich erhoben werden müssen. Werden die Ansprüche abgelehnt, so verfallen sie nach der tariflichen Regelung, wenn sie nicht innerhalb von 2 Monaten nach der Ablehnung gerichtlich geltend gemacht werden. Der Arbeitnehmer erhob Befristungskontrollklage. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die vereinbarte Befristung beendet worden ist. Das Urteil ist rechtskräftig geworden. In der Folgezeit stritten die Parteien gerichtlich über Annahmeverzugslohnansprüche des Arbeitnehmers für den Zeitraum der Bestandsschutzstreitigkeit. Der Arbeitgeber berief sich unter anderem auf den Verfall der Entgeltansprüche aufgrund der tariflichen doppelstufigen Ausschlussfrist.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben die Zahlungsklage des Arbeitnehmers auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für nicht begründet gehalten. Nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts war für die Wahrung der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist regelmäßig die Erhebung einer bezifferten Zahlungs- oder Feststellungsklage erforderlich. Eine solche Zahlungs- oder Feststellungsklage hatte der Arbeitnehmer vorliegend innerhalb der Ausschlussfristen nicht erhoben.
Das Bundesarbeitsgericht hat im Gegensatz zu den Vorinstanzen festgestellt, dass die streitgegenständlichen Vergütungsansprüche des Arbeitnehmers nicht verfallen sind und – auch mit den vorstehend genannten Parallelentscheidungen vom gleichen Tage – seine bisherige entgegenstehende Rechtsprechung aufgehoben.
Die tarifvertragliche Verfallfrist sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage (Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage) die davon abhängigen Ansprüche wegen Annahmeverzugs im Sinne der tariflichen Ausschlussfrist gerichtlich geltend gemacht sind. Zur Begründung führt das Bundesarbeitsgericht aus, dass der Arbeitnehmer mit einer Bestandsschutzklage nach ständiger Rechtsprechung zunächst die erste Stufe einer Ausschlussfrist wahre. Der Arbeitnehmer erstrebe mit einer solchen Klage jedoch nicht nur die Erhaltung seines Arbeitsplatzes, sondern bezwecke darüber hinaus auch, sich die Vergütungsansprüche wegen Annahmeverzugs zu erhalten. Mit einer Bestandsschutzklage mache der Arbeitnehmer die vom Ausgang des Rechtsstreits abhängigen Ansprüche damit auch im Sinne der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist „gerichtlich geltend“. An seiner bisherigen gegenteiligen Rechtsprechung könne das Bundesarbeitsgericht aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2010 nicht festhalten. Das Bundesverfassungsgericht habe entscheiden, dass der Arbeitnehmer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutz verletzt werde, wenn das tarifliche Erfordernis einer gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die vom Ausgang der Bestandsstreitigkeit abhängen, nach den bisherigen Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgelegt und angewandt werde. Ausschlussfristen bezweckten, dem Schuldner zeitnah Gewissheit darüber zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er noch zu rechnen habe. Erhebe der Arbeitnehmer Bestandsschutzklage, könne der Arbeitgeber an der Ernstlichkeit der Geltendmachung hiervon abhängiger Vergütungsansprüche allerdings nicht wirklich zweifeln. Tarifvertragliche Ausschlussfristen, die eine rechtzeitige gerichtliche Geltendmachung vorsehen, sind nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts damit dahingehend auszulegen, dass die vom Erfolg einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche bereits mit der Klage in der Bestandsstreitigkeit gerichtlich geltend gemacht sind.
Bewertung der Entscheidung:
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts kommt nicht unerwartet, hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 01.12.2010 den Arbeitsgerichten doch gerade aufgegeben, die Rechtslage der gerichtlichen Geltendmachung bei zweistufigen Ausschlussfristen neu zu gestalten. Bereits zuvor war das Bundesarbeitsgericht für den Bereich doppelstufigen Ausschlussfristen in Formulararbeitsverträgen zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Mit seiner Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht die Rechtslage nunmehr vereinheitlicht.
Praxisfolgen:
Doppelstufige Ausschlussfristen in Tarifverträgen oder in Formulararbeitsverträgen haben mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts weitgehend an Bedeutung verloren.
Nach gewonnenem Bestandsschutzrechtsstreit muss der Arbeitnehmer die von dem Ausgang abhängigen Annahmeverzugslohnansprüche nicht innerhalb kurzer Fristen geltend machen. Der Arbeitgeber muss also bis zur Grenze der Verwirkung bzw. Verjährung mit der Geltendmachung von Annahmeverzugsansprüchen durch den Arbeitnehmer rechnen. Dies ist bei der ggf. erforderlichen Bildung von Rücklagen zu berücksichtigen.