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Arbeitsrecht

„Neuer“ Betriebsbegriff bei der in § 17 Abs. 1 KSchG geregelte Massenentlassungsanzeige

Das Kündigungsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in einem Betrieb innerhalb der jeweils für ihn geltenden Schwellenwerte in einer der in § 17 Abs. 1 Nr. 1 – 3 KSchG genannten Größenordnung Entlassungen innerhalb von 30 Tagen vornimmt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses in einem Betrieb gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden. Rechtsfolge einer von § 17 Abs. 1 KSchG geforderten, aber tatsächlich unterbliebenen oder fehlerhaften Anzeige ist die Unwirksamkeit der den Betrieb betreffenden ausgesprochenen Kündigungen, da die ordnungsgemäße Durchführung der auch im deutschen Recht gemeinhin als Massenentlassungsanzeige bezeichneten Anzeige i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG nach nunmehr ständiger Rechtsprechung Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung ist. Der EuGH hat kürzlich den Begriff des Betriebes in der Richtlinie des Rates 98/59/EG vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen konkretisiert. Das hat Einfluss auf den in § 17 Abs. 1 KSchG zugrunde zu legenden Betriebsbegriff.

EuGH (5. Kammer), Urteil vom 30.04.2015 – C 80/40 (US-DAW u.a./WW Realisation 1 Ltd, in Liquidation u.a.)

Sachverhalt (vereinfacht) und Entscheidung:

Ausgangspunkt des EuGH-Verfahrens sind Urteile des Arbeitsgerichts Liverpool und London, in denen den klagenden Mitarbeitern Schutzentschädigungen gegen die beklagten Arbeitgeber mit der Begründung zugesprochen wurden, dass diese die im Vereinigten Königreich im dort geltenden Konsultationsgesetz von 1992 vorgesehenen Konsultationsverfahren vor Erlass von Sozialplänen nicht eingehalten haben. Die Klage einer größeren Anzahl von Mitarbeitern wurde jedoch von den Arbeitsgerichten mit der Begründung abgewiesen, sie hätten in Ladengeschäften mit weniger als 20 Arbeitnehmern gearbeitet und das jedes dieser Ladengeschäfte als eigenständiger Betrieb anzusehen seien, sodass aufgrund der vom Arbeitgeber im britischen Konsultationsgesetz näher geregelten Schwellenwerte für eine Konsultationspflicht vor Erlass von Sozialplänen schon zahlenmäßig nicht erreicht gewesen seien.

Das daraufhin von den unterlegenen Mitarbeitern angerufene Berufungsgericht hat die klageabweisenden Entscheidungen aufgehoben und die Arbeitgeber antragsgemäß verurteilt. Der vorliegende Court of Appeal of England and Wales hat nach Zulassung des Rechtsmittels die Verfahren ausgesetzt und dem EuGH seine Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der EuGH musste in diesem Verfahren den Begriff des „Betriebes“ in Art. 1 I der Richtlinie 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) auslegen. Da der deutsche Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 KSchG diese Massenentlassungsrichtlinie des Rates 98/59/EG umgesetzt hat, hat das vom EuGH gefundene Auslegungsergebnis des Betriebsbegriffes der Richtlinie Auswirkungen auf die Auslegung des in § 17 Abs. 1 enthaltenen Betriebsbegriffs durch die nationalen deutschen Gerichte.

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 30.04.2015 ein Auslegungsergebnis bezüglich des Begriffes des „Betriebes“ in Art. 1 I der Richtlinie 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften gefunden, das Abweichungen von dem bisher vom BAG vertretenen Betriebsbegriff i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG zur Folge haben dürfte.

Nach der EuGH-Rechtsprechung liegt ein „selbstständiger“ Betrieb i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG vor, wenn in einem Betriebsteil eine Leitung vorhanden ist und der Betriebs-teil eine gewisse Dauerhaftigkeit von Stabilität aufweist und von anderen Betrieben des Unternehmens unterschieden werden kann. Außerdem muss der Betriebsteil eine oder mehrere Aufgaben bewältigen sowie technische Mittel und Organisationsstrukturen zur Erfüllung dieser Aufgaben haben.

Das Bundesarbeitsgericht ist demgegenüber bisher – soweit ersichtlich – immer da-von ausgegangen, dass der Betriebsbegriff in § 17 Abs. 1 KSchG dem Betriebsbegriff des §§ 1,4 BetrVG entspricht, vgl. BAG, Urteil vom 28.06.2012 – 6 AZR 780/10 – juris. Daran dürfte zukünftig nicht mehr in allen Fällen festzuhalten sein.

Ausgangspunkt ist die Frage, auf welchen Betrieb bzw. Betriebsteil bei der Feststellung der Schwellenwerte für eine Massenentlassungsanzeige bzw. für ein damit in Verbindung stehendes Konsultationsverfahren abzustellen ist. Gehören die zur Entlassung anstehenden Mitarbeiter einem „selbstständigen“ Betrieb an, sodass sich die Feststellung der Schwellenwerte nach der Zahl der diesem „selbstständigen“ Betrieb zuzuordnenden Mitarbeiter bestimmt? Oder ist für die Feststellung der Schwellenwerte auf die zusammenzurechnenden Arbeitsverhältnisse eines – aus mehreren Betrieben rechtlich zusammengesetzten – Betriebes abzustellen?

Die Beantwortung dieser Fragen ist maßgeblich dafür, ob Schwellenwerte für eine Massenentlassungsanzeige bzw. für ein Konsultationsverfahren i.S.v.
§ 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden.

Hat das Unternehmen nur einen Betrieb, ist bei einer fraglichen Überschreitung der jeweils in Betracht kommenden Schwellenwerte i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG auf die Mitarbeiterzahlen in diesem Betrieb abzustellen. Das gilt auch, wenn das Unternehmen aus mehreren Betrieben im Sinne des § 1 BetrVG besteht. Auch in diesem Fall ist für die Frage, ob Schwellenwerte i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, ebenfalls – nur – auf die Verhältnisse in dem Betrieb abzustellen, der der zu entlassene Mitarbeiter angehört.

Hat ein Unternehmen aber neben einem selbstständigen Betrieb auch einen Be-triebsteil, gilt – betriebsverfassungsrechtlich gesehen – dieser nach § 4 Abs. 1 BetrVG als „selbstständiger“ Betrieb, wenn diesem Betriebsteil in der Regel mindestens 5 ständige wahlberechtigte Mitarbeiter zugeordnet sind, von denen 3 wählbar sind, weil sie nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG mindestens über 6 Monate Betriebszugehörig-keit verfügen und der Betriebsteil nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist.

Gelten danach – betriebsverfassungsrechtlich gesehen – Betriebsteile i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG als „selbstständige“ Betriebe, ist der Beantwortung der Frage, ob Schwellenwerte i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, – nur – auf die Verhältnisse in den „selbstständigen“ Betriebsteil abzustellen, dem der betroffene Mitarbeiter zugeordnet ist.

Liegen die Voraussetzungen i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bzw. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG dafür, dass ein Betriebsteil als „selbstständiger“ Betrieb gilt, nicht vor, ist der Betriebsteil dem Hauptbetrieb zuzurechnen und es kann für die Frage, ob Schwellenwerte i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, nur zusammengerechnet auf die – zusammengerechnete – Anzahl der Arbeitsverhältnisse im Betriebsteil und Hauptbetrieb abgestellt werden, so, als wenn es sich dabei also um einen Betrieb handelte. Das gilt auch, wenn nach den vorstehenden Ausführungen in dem Betriebsteil kein Betriebsrat gewählt und die Arbeitnehmer dieses Betriebsteils i.S.v. § 4 Abs. 2 BetrVG beschlossen haben, an der Betriebsratswahl des Hauptbetriebes teilzunehmen. Auch in diesem Fall gilt ein solcher Betriebsteil und der Hauptbetrieb bei der Prüfung der Schwellenwerte i.S.v. § 17 Abs. 1 BetrVG als ein Betrieb. Auch kleinere Betriebe, wie z.B. die, die die für eine Betriebsratswahl erforderliche Anzahl an Mitarbeitern nach § 1 Abs. 1 BetrVG nicht besitzen, sind gem. § 4 Abs. 2 BetrVG – aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht – dem Hauptbetrieb zuzurechnen.

Soweit das Bundesarbeitsgericht bisher nach den vorstehenden Ausführungen bei der Bestimmung des Betriebsbegriffs i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG davon ausgegangen ist, dass ein dem Hauptbetrieb zuzurechnender Betriebsteil i.S.v. § 4 BetrVG vorliegt, also der „nicht selbstständige“ Betriebsteil mit dem Hauptbetrieb als ein Betrieb behandelt hat, kann das BAG u.E. an dieser Rechtsprechung zukünftig nicht mehr uneingeschränkt festhalten. Selbst wenn i.S.v. § 4 BetrVG „kein selbstständiger“ Betriebsteil im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne mehr vorliegt, kann es sich nach der neuen EuGH-Rechtsprechung dennoch um einen selbstständigen Betriebsteil des § 17 Abs. 1 KSchG handeln. Das ist – soweit ersichtlich – neu.

Ein solcher selbstständiger Betrieb i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG dürfte u.E. nach der EuGH-Rechtsprechung schon immer dann vorliegen, wenn in dem Betriebsteil eine Leitung existiert, auch wenn diese selbstständig Massenentlassungen nicht vornehmen kann. Verlangt wird von der EuGH-Rechtsprechung vielmehr lediglich ein Mindestmaß an organisierter Selbstständigkeit des Betriebsteils gegenüber dem Hauptbetrieb. Davon ist nach der EuGH-Entscheidung bereits auszugehen, wenn überhaupt eine den Einsatz von Mitarbeitern bestimmende Leitung in dem Betriebsteil institutionalisiert ist, also wenn nur eine Person vorhanden ist, die für den Arbeitgeber Weisungen ausüben kann, ohne dass es in diesem Zusammenhang auf die von § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BetrVG geforderte räumliche Entfernung ankäme.

Erforderlich für das Vorliegen eines „selbstständigen“ Betriebsteils i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG ist nach EuGH lediglich weiter, dass der Betriebsteil eine oder mehrere Auf-gaben zu bewältigen hat sowie technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben hat und von anderen Betrieben bzw. Betriebsteilen unterscheidbar ist. Da die vom EuGH insoweit verlangte Unterscheidbarkeit zwischen dem Hauptbetrieb und dem Betriebsteil selbst dann bestehen kann, wenn die Einheiten auf demselben Betriebsgelände tätig sind, wird es bei beabsichtigten Entlassungen von Arbeitsverhältnissen in Betriebsteilen i.S.v. § 4 BetrVG bei der Auslegung des Betriebsbegriffs i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG u.E. zukünftig vermehrt allein auf die Beschäftigungsverhältnisse in dem betroffenen Betriebsteil ankommen, eine Zusammenrechnung der Arbeitsverhältnisse in solchen Betriebsteilen mit den Arbeitsverhältnissen im Hauptbetrieb wird danach zukünftig im Anwendungsbereich des § 17 Abs. 1 KSchG wohl eher die Ausnahme und der betreffende Betriebsteil als „selbstständiger“ Betrieb i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG anzusehen ist.

Bewertung der Entscheidung

Die Entscheidung des EuGH wird in einigen Bereichen des Arbeitsrechts zum Um-denken zwingen. U.E. ist die Bestimmbarkeit eines „selbstständigen“ Betriebsteils i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG durch diese Neujustierung des Betriebsbegriffs durch den EuGH zwar etwas einfacher geworden, denn auf die oft nur rechtsunsicher zu bestimmenden Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG dürfte es u.E. in diesem Zusammenhang nicht mehr entscheidend ankommen. Es bleibt jedoch weiterhin Unbehagen. Man wird auch zukünftig „zweigleisig“ vorgehen müssen: Ergeben sich im Rahmen der Schwellenbestimmung i.S.v. § 17 Abs. 1 BetrVG zukünftig bei der Anwendung des Betriebsbegriffs i.S.d. BetrVG Unterschiede zu dem Betriebsverständnis des EuGH, sollte der Arbeitgeber nach dem Ergebnis beider Verfahren vorgehen. Ein zwar umständlicher Weg, aber angesichts der Risiken wohl nicht zu vermeiden.

Praxisfolgen:

Offen dürfte sein, wie ein Arbeitgeber zu verfahren hat, der einen reinen Personalabbau plant. Wann trifft ihn die Obliegenheit, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich zu verhandeln? Auch wenn § 111 BetrVG keinen Hinweis auf § 17 Abs. 1 KSchG enthält, ist doch nach der Rechtsprechung des BAG, Urteil vom 09.11.2010 – 1 AZR 708/09 -, juris, bei einem reinen Personalaufbau auf die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG abzustellen, wenn gleichwohl bei größeren Betrieben allerdings mindestens 5 % der Belegschaft betroffen sein müssen, vgl. BAG, Beschluss vom 28.03.2006 – 1 ABR 5/05 – juris. Hier bleibt abzuwarten, wie das BAG mit dieser Neujustierung des Betriebsbegriffs durch den EuGH im Rahmen der Anwendbarkeit des § 111 BetrVG umgehen wird.

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