Ist der Betriebsrat in Folge einer vorrübergehenden Verhinderung von Betriebsrats-mitgliedern auch nach Nachrücken von Ersatzmitgliedern für die Dauer der sich aus § 102 BetrVG ergebenden Äußerungsfristen nicht mehr mit der vorgeschriebenen Zahl besetzt, nimmt der Restbetriebsrat in entsprechender Anwendung des § 22 BetrVG die sich aus § 102 BetrVG ergebenden Mitbestimmungsrechte wahr.
Bundesarbeitsgericht, 18.08.1982, – 7 AZR 437/80 –
Sachverhalt und Entscheidung:
Die gegen die ordentliche Kündigung klagende Arbeitnehmerin ließ im Prozess vor-tragen, dass die seitens ihrer Arbeitgeberin ausgesprochene Kündigung auch des-halb unwirksam sei, weil die Arbeitgeberin vor Ausspruch dieser Kündigung nicht die in § 102 Abs. 2 BetrVG geregelte Äußerungsfrist abgewartet habe. Diese habe von der Arbeitgeberin deshalb abgewartet werden müssen, weil der Arbeitgeberin die vor Ablauf der Äußerungsfrist zugegangene Alleinentscheidung des Betriebsratsvorsitzenden mangels Beschlussfähigkeit des Betriebsratsgremiums gem. § 33 Abs. 2 BetrVG offenkundig rechtsunwirksam gewesen sei.
Tatsächlich bestand der Betriebsrat bei der Arbeitgeberin aus 3 Mitgliedern, wovon zum Zeitpunkt der Beteiligung des Betriebsrates gem. § 102 BetrVG ein Betriebs-ratsmitglied auf unbestimmte Zeit erkrankt und ein anderes Betriebsratsmitglied im Urlaub und in Folge dessen nur noch der Betriebsratsvorsitzende im Betrieb anwe-send war. Ersatzmitglieder standen keine zur Verfügung.
Dieser Auffassung der Arbeitnehmerin folgte das BAG nicht. § 22 BetrVG sei ent-sprechend anzuwenden, wenn ein Teil der Betriebsratsmitglieder zeitlich vorübergehend verhindert sei und damit vorübergehend ein Absinken unter die nach §§ 9, 11 BetrVG vorgeschriebene Betriebsrats-Mitgliederzahl erfolge. In einer solchen Situation seien die verbliebenen Betriebsratsmitglieder als befugt anzusehen, die Geschäfte des Betriebsrats während der Zeit der Verhinderung weiterzuführen. Das bedeute, dass für die Beschlussfähigkeit des Betriebsrates von der Zahl der verbliebenen Betriebsratsmitglieder auszugehen sei, wenn mindestens die Hälfte der verbliebenen Betriebsratsmitglieder an der Beschlussfassung teilnehme.
Bewertung der Entscheidung:
Die Entscheidung eröffnet einen entsprechenden Anwendungsbereich für die Vor-schrift des § 22 BetrVG (nur) in den Fällen, in denen letztlich mindestens die Hälfte der verbliebenen Betriebsratsmitglieder unter Einbeziehung der Ersatzmitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen. Ist das nicht der Fall, ist der Betriebsrat im kon-kreten Fall nicht beschlussfähig, was die Nichtigkeit des Betriebsratsbeschlusses zur Folge hat, vgl. Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 28. Auflage, § 33 BetrVG, Rn. 54 f. Haben aber mindestens die Hälfte der verbliebenen Betriebsratsmitglieder unter Einbeziehung der Ersatzmitglieder an der Beschlussfassung des Betriebsrats teilgenommen, muss darüber hinaus die Weiterführung der Betriebsratsgeschäfte durch die verbliebenen Betriebsratsmitglieder in der konkreten Beteiligungssituation erforderlich sein. Davon ist nach der Entscheidung des BAG nur dann auszugehen, wenn die Verhinderung der abwesenden Betriebsratsmitglieder bis nach Ablauf der konkret einschlägigen Äußerungsfrist des § 102 BetrVG andauert, sodass eine aus der entsprechenden Anwendung des § 22 BetrVG folgende Befugnis zur Weiterführung der Betriebsratsgeschäfte nur dann anzunehmen ist, wenn dies zur Wahrung der Beteiligungsrechte auch zwingend erforderlich ist. Daraus folgt zwangsläufig, dass in den Fällen, in denen eine vorrübergehende Verhinderung der Betriebsratsmitglieder noch innerhalb der jeweils einschlägigen Äußerungsfrist endet, die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung des § 22 BetrVG nicht vorliegen. Die gleiche Fragestellung dürfte auftauchen bei einer Beteiligung des Betriebsrates gem. § 99 Abs. 3 BetrVG, der das Vorliegen einer Zustimmung des Betriebsrats fingiert, wenn der Betriebsrat dem Arbeitgeber nicht innerhalb einer Woche nach Unterrichtung die Gründe für die verweigerte Zustimmung der personellen Maßnahme mitteilt. Gleiches dürfte bei den in § 103 Abs. 1 und 2 BetrVG vorgesehenen Zustimmungserfordernissen für den Betriebsrat gelten.
Dort allerdings, wo die Beteiligungsrechte des Betriebsrates nicht fristgebunden sind, ist für eine entsprechende Anwendung des § 22 BetrVG kein Raum.
Fazit:
Für den Arbeitgeber ist die Frage, ob eine Beschlussfähigkeit des Betriebsrats im konkreten Einzelfall bei der fristgebundenen Betriebsratsbeteiligung vorgelegen hat, oft nicht leicht festzustellen. Es gilt zwar der Grundsatz, dass ein nichtiger Betriebsratsbeschluss keine Auswirkungen auf die Rechtsgültigkeit der vom Arbeitgeber beabsichtigten Maßnahme hat, wenn die Maßnahme lediglich der Mitwirkung des Betriebsrates unterliegt. Jedoch muss der Arbeitgeber, der die Nichtigkeit des Betriebsratsbeschlusses erkennt, unter Umständen aus dem Gesichtspunkt der vertrauensvollen Zusammenarbeit eine eventuell erneute ordnungsgemäße Beschlussfassung abwarten. Soweit nur irgendwie möglich, sollte der Arbeitgeber daher trotz einer ihm bereits vor Ablauf der jeweiligen Äußerungsfrist mitgeteilten Beschlussfassung den Ablauf der Ausschlussfristen abwarten, bevor er die dann für geboten gehaltenen weiteren Maßnahmen ergreift. Bei gleichzeitiger vorübergehender Verhinderung aller Betriebsrats- und Ersatzmitglieder wird der Arbeitgeber ohnehin sorgfältig zu prüfen haben, ob er ggf. die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Betriebsrates abwarten muss oder ob er nach Ablauf der Äußerungsfrist die für geboten gehaltenen weiteren Maßnahmen ergreift, vgl. hierzu Etzel in KR Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 10. Auflage, § 102 BetrVG, Rn. 18 ff.