II./2020 Newsletter Arbeitsrecht

Das Landesarbeitsgericht Kiel hat entschieden, dass die Freistellung einer ordentlich tariflich unkündbaren geschäftsführenden Oberärztin nach einem Chefarztwechsel zur Erzwingung und Durchführung von Verhandlungen über die Aufhebung ihres Vertragsverhältnisses rechtsmissbräuchlich sein kann. Eine solche Freistellung, die dem Beschäftigungsanspruch der Mitarbeiterin entgegenstehen kann, ist nur dann gerechtfertigt, wenn ihr überwiegende schutzwerde Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen. Das allgemein zu bejahende Beschäftigungsinteresse kann dabei im Einzelfall durch besondere Interessen ideeller und/oder materieller Art verstärkt werden, etwa der Geltung in der Berufswelt oder der Erhaltung von Fachkenntnissen. Als unbeachtlich ist es in diesem Zusammenhang anzusehen, dass es bei einem Chefarztwechsel üblich sein soll, dass der „neue Chef“ das Ärzteteam insgesamt anpasst und es in seinem Ermessen stehen soll, mit welchen (leitenden) Oberärzten und Assistenzärzten er zusammenarbeiten möchte. Auch soweit ein „besonderes Vertrauensverhältnis“ bemüht wird, das zwischen dem Chefarzt und seinen Mitarbeitern bestehen muss, muss im Einzelnen dargetan werden, aufgrund welcher konkreter Tatsachen, die der Mitarbeiterin angelastet werden könnten, ein Vertrauensverhältnis nicht herstellbar war und ist. Persönliche Animositäten können gegenüber dem aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Beschäftigungsanspruch nicht schutzwürdiger sein. Liegen Spannungen vor, muss die Arbeitgeberin darlegen und ggf. glaubhaft machen, dass diese von der Mitarbeiterin beeinflussbar waren und von ihr verursacht wurden. Auch dem Vorwurf, die Mitarbeiterin werde dem fachlichen Anspruch des Chefarztes nicht gerecht, kann nur nachgegangen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden, woraus sich konkrete, berechtigte Zweifel an der fachlichen Leistung und Qualifikation der Mitarbeiterin ergeben sollen. In diesem Zusammenhang kann der Mitarbeiterin im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung auch nicht vorgeworfen werden, nicht zu Verhandlungen über die Aufhebung und Abwicklung des eigenen Anstellungsvertrages zur Verfügung zu stehen, da kein Arbeitnehmer rechtlich verpflichtet ist, Verhandlungen über die Aufhebung und Abwicklung des eigenen Anstellungsvertrages durchzuführen.

LAG Kiel, Urteil vom 06.02.2020 – 3 Sa Ba 7 öD/19 – LAG Kiel-Pressemitteilung Nr. 6/2020

 

Ein Unternehmen kann die zukünftige Unterlassung von Behauptungen verlangen, die die Gewerkschaft in einem Flugblatt aufgestellt hat, mit denen sie die Mitarbeiter zur Teilnahme an einem von ihr organisierten Streiktag bei diesem Unternehmen auffordert. In den Flugblättern heißt es, dass das Unternehmen versucht habe, Mitarbeiter von der Teilnahme am Streik abzuhalten. Außerdem sei der Betriebsrat über die Anzahl der Krankheitstage eines Mitarbeiters belogen worden, um dessen Entfristung zu verhindern. Das Arbeitsgericht hat allerdings die Anträge zurückgewiesen. In den Flugblättern sei hinreichend deutlich geworden, dass es sich bei den zitierten Äußerungen um persönliche Einschätzungen der Beklagten handele, die als Meinungsäußerungen in Arbeitskampfmaßnahmen zulässig seien.

ArbG Düsseldorf, 06.04.2020 – 14 Sa 5677/19 – justiz.nrw.de

 

Ohne dass nicht zuvor der in § 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG geforderte Versuch einer Einigung unternommen und Vorschläge für die Überwindung der bestehenden Meinungsverschiedenheiten gemacht worden sind, fehlt es für einen Antrag auf gerichtliche Einsetzung einer Einigungsstelle an dem nach § 100 ArbGG erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis für einen solchen Antrag an das Arbeitsgericht. Eine Anrufung des Arbeitsgerichts nach § 100 ArbGG ist also erst möglich, wenn die Gegenseite Verhandlungen ausdrücklich oder konkludent verweigert hat oder solche Verhandlungen zwar mit Verständigungswillen stattgefunden haben, jedoch gescheitert sind.

Hat eine Seite ihre zukünftige Verhandlungsposition im Kern dargestellt, kann sie vom Scheitern eines Einigungsversuchs in freien Verhandlungen ausgehen, wenn die andere Seite dadurch, dass sie sich auf das Verhandlungsangebot nicht meldet oder Verhandlungen gar pauschal ablehnt, zu erkennen gegeben hat, dass eine Verhandlungsbereitschaft nicht vorhanden ist. Das Gleiche gilt, wenn zwar zügig und ernsthaft in Verhandlungen eingetreten wird, danach jedoch eine Seite nach nicht ganz unbegründeter subjektiver Einschätzung annehmen darf, dass die Verhandlungen nicht, zumindest nicht in absehbarer Zeit zum Erfolg führen werden.

Die Auffassung des LAG Niedersachsen vom 25.10.2005 – 1 TaBV 48/05 – juris Rz. 20, wonach der Grundsatz gelte „Wer Verhandlungen für aussichtlos hält, kann die Einrichtung einer Einigungsstelle beantragen“ ist daher abzulehnen.

Vielmehr gilt grundsätzlich:

  • Zunächst muss zumindest die antragstellende Partei zuvor ernsthaft versucht haben, mit der Gegenseite in Verhandlungen zum Thema der Einigungsstelle einzutreten, wozu insbesondere gehört, eigene Vorstellungen zum Regelungsthema zu formulieren, über die dann überhaupt erst verhandelt werden könnte. Hiervon kann allein dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn die Gegenseite zuvor bereits ausdrücklich oder konkludent erklärt hat, Verhandlungen abzulehnen.
  • Wird die Aufnahme von Verhandlungen trotz vordergründig artikulierter Verhandlungsbereitschaft von einer Partei dann gleichwohl verzögert, kann die andere Partei direkt die Einigungsstelle anrufen und gerichtlich einsetzen lassen. Hier gilt bereits der oben beschriebene Maßstab einer nicht offensichtlichen unbegründeten subjektiven Einschätzung.
  • Sind Verhandlungen begonnen worden, gelangt jedoch eine der Seiten nach ihrer nicht offensichtlich unbegründeten subjektiven Einschätzung zu der Annahme, dass die Verhandlung nicht oder nicht absehbarer Zeit zum Erfolg führen werden, kann sie ebenfalls die Einigungsstelle anrufen und gerichtlich einsetzen lassen.

LAG Düsseldorf, 07.04.2020 – 3 TaBV 1/20 – dejure.org

 

Ein Verfügungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers, demgegenüber eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen wurde, ist nur dann gegeben, wenn die Kündigung des Arbeitgebers offensichtlich unwirksam ist. Eine solche offensichtliche Unwirksamkeit einer ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung kann z.B. vorliegen, wenn dem Schriftformgebot des § 623 BGB nicht genügt ist, wenn keine materielle Präklusion i.S.v. § 7 KSchG vorliegt, wenn nicht offensichtlich gegen § 102 BetrVG oder gegen § 103 Abs. 1 BetrVG i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG oder auch gegen § 626 Abs. 1 BGB oder sonst noch in Betracht kommende Regelungen verstoßen wurde.

LAG Köln, 15.04.2020 – 4 Ta 55/20 – dejure.org

 

Ausgleichsklauseln in einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich oder in einem Aufhebungsvertrag sind im Interesse klarer Verhältnisse grundsätzlich weit auszulegen. Durch eine Ausgleichsklausel im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wollen die Parteien in der Regel das Arbeitsverhältnis abschließend bereinigen und alle Ansprüche erledigen, gleichgültig, ob sie an diese dachten oder nicht. Die in einem Prozessvergleich vereinbarte Klausel „Damit sind sämtliche Ansprüche der Parteien aus dem beendeten Arbeitsverhältnis und diesem Rechtsstreit – gleich aus welchem Rechtsgrund – erledigt und erloschen“ erfasst auch Ansprüche auf Urlaubsabgeltung.

LAG Mecklenburg-Vorpommern, 12.05.2020 – 5 Sa 197/19 – juris.

 

Die Parteien eines Tarifvertrages können in diesem nicht wirksam vereinbaren, dass Ansprüche aus dem Tarifvertrag trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit nur dann bestehen, wenn die Arbeitsvertragsparteien die Einführung des Tarifwerks durch eine Bezugnahmeklausel auch individualvertraglich nachvollziehen. Eine solche Bestimmung liegt außerhalb der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien.

BAG, 13.05.2020 – 4 AZR 489/19 – BAG-Pressemitteilung Nr. 14/20

 

Das LAG Hamburg hat auf die Anträge der IG Metall, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sowie der obersten Arbeitsbehörden der Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass die „DHV-Die Berufsgewerkschaft e.V.“ seit dem 21.04.2015 nicht mehr tariffähig ist.

LAG Hamburg, 22.05.2020 – 5 TaBV 15/18 – juris

 

Ergibt sich bei typologisch sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als auch eines freien Dienstverhältnisses möglicher Tätigkeit im Wege der Auslegung der vertraglichen Vereinbarungen, dass die Vertragsparteien sich deutlich für den Vertragstyp des Arbeitsvertrages entschieden haben, ist diese Vertragstypenwahl regelmäßig bindend. Eine gerichtliche Korrektur anhand der praktischen Vertragsdurchführung findet hier in aller Regel nicht mehr statt. Damit ist automatisch auch der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten begründet.

LAG Düsseldorf, 04.06.2020 – 3 Ta 155/20 – juris.

 

Ein Tarifvertrag, der für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt, könnte gegen Unionsrecht verstoßen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts richtet einen Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union, um diese Frage zu klären.

Zwischen den Parteien besteht seit Januar 2017 ein Arbeitsverhältnis. Sie waren im streitigen Zeitraum an dem Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17.09.2013 gebunden. Der Tarifvertrag regelt, dass Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 25 % für Zeiten gezahlt werden, die im jeweiligen Kalendermonat über eine bestimmte Zahl geleisteter Stunden hinausgehen. Der Kläger macht Mehrarbeitszuschläge für August 2017 geltend, in dem er 121,75 Stunden tatsächlich gearbeitet hat. Daneben hat er in diesem Monat in der Fünftagewoche für zehn Arbeitstag Erholungsurlaub in Anspruch genommen. Die Beklagte hat für 84,7 Stunden abgerechnet. Die tarifvertragliche Schwelle, die überschritten werden muss, damit in diesem Monat Mehrarbeitszuschläge zu leisten sind, liegt bei 184 Stunden. Der Kläger meint, ihm stünden Mehrarbeitszuschläge zu, weil auch die für den Urlaub abgerechneten Stunden einzubeziehen seien.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union zu klären, ob die tarifliche Regelung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG vereinbar ist. Die Auslegung des Tarifvertrags lässt es nicht zu, Urlaubszeiten bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen. Klärungsbedürftig ist, ob der Tarifvertrag damit einen unionsrechtlich unzulässigen Anreiz begründet, auf Urlaub zu verzichten.

BAG, 17.06.2020 – 10 AZR 210/19 (A) – BAG-Pressemitteilung Nr. 16/20

 

Wird ein bestätigendes Berufungsurteil vom BAG aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, bleibt es – auch im Hinblick auf einen ausgeurteilten Weiterbeschäftigungsanspruch – bei der vorläufigen Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen Urteils. Eine analoge Anwendung des § 717 Abs. 1 ZPO kommt nicht in Betracht. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem erstinstanzlichen arbeitsgerichtlichen Urteil ist vielmehr nach § 62 Abs. 1 S. 3 ArbGG i.V.m. § 62 Abs. 1 S. 2 ArbGG nur ausnahmsweise zulässig. In diesem Fall muss der antragstellende Schuldner glaubhaft machen, dass ihm die Vollstreckung einen unersetzlichen Nachteil bringen würde. Nicht zu ersetzen ist ein Nachteil, wenn die Wirkung der Vollstreckung nachträglich nicht wieder beseitigt oder ausgeglichen werden kann.

LAG Hamm, 24.06.2020 – 4 Sa 143/19 –

 

Nach § 10 Abs. 1 S. 1 Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) haben „Beschäftigte“ zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne dieses Gesetzes einen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 – 16. Nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG sind u.a. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beschäftigte im Sinne dieses Gesetzes. Die Begriffe „Arbeitnehmerinnen“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sind nicht eng i.S.d. Arbeitnehmerbegriffs des innerstaatlichen Rechts, sondern unionskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG weit auszulegen. Danach können im Einzelfall auch arbeitnehmerähnliche Personen i.S.d. innerstaatlichen Rechts Arbeitnehmer i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sein.

BAG, 25.06.2020 – 8 AZR 145/19 – BAG-Pressemitteilung Nr. 17/20

 

Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese nach § 82 S. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Das gilt auch bei einer (ausschließlich) internen Stellenausschreibung.

BAG, 25.06.2020 – 8 AZR 75/19 – BAG-Pressemitteilung Nr. 18/20

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