Ein Arbeitgeber ist gemäß § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX vor Ausspruch einer Beendigungskündigung grundsätzlich verpflichtet, einem iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX Schwerbehinderten oder nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten Arbeitnehmer eine – gegebenenfalls auch vertragsfremde – behinderungsgerechte Tätigkeit auf einem freien Arbeitsplatz anzubieten, wenn der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung nicht mehr in der Lage ist, seine arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit auszuüben.
Als „frei“ in diesem Sinne sind nicht nur unbesetzte Arbeitsplätze anzusehen, sondern auch solche, die der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung des schwerbehinderten/gleichgestellten Arbeitnehmers treuwidrig iSv. § 162 BGB anderweitig besetzt hat
LArbG Rheinland-Pfalz, 04.07.2023 – 8 Sa 60/23 – juris
Ermächtigt eine Betriebsvereinbarung den Arbeitgeber einseitig dazu, ein bereits erarbeitetes Guthaben auf einem Arbeitszeitkonto zu verwenden, um dem Arbeitnehmer künftig weniger Schichten zuteilen zu müssen, verschiebt diese Regelung in ungerechtfertigter Art und Weise das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer, wenn der Arbeitnehmer nicht frei darüber entscheiden kann, ob und wie viele Schichten ihm zugeteilt werden.
LArbG Köln, 11.07.2023 – 4 Sa 359/23 – juris
Der Wahlvorstand hat sich so zu organisieren, dass er den Pflichten der unverzüglichen Prüfung von Wahlvorschlägen und unverzüglichen schriftlichen Benachrichtigung gemäß § 7 Abs. 2 WahlO nachkommen kann. Für die Endphase der Einreichungsfrist heißt dies, dass er insbesondere die rechtzeitige Prüfung und Benachrichtigung iSv. § 7 Abs. 2 WahlO abzusichern.
Schickt der Wahlvorstand eine(n) Boten/Botin an eine(n) Listenführer(in) allein mit der Mitteilung, es liege ein Beanstandungsschreiben gemäß § 7 Abs. 2 WahlO vor, welches sich diese(r) abholen möge, verzögert er schuldhaft die Übermittlung dieses Schreibens, weil er es dem/der Boten/Botin schon hätte mitgeben können.
Thüringer LArBG, 12.07.2023 – 4 TaBV 31/22 – juris
Bei der Bestimmung der Lage der Arbeitszeit muss der Arbeitgeber nach Möglichkeit auch auf die Personensorgepflichten des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen, sofern betriebliche Gründe oder berechtigter Belange anderer Arbeitnehmer/-innen nicht entgegenstehen.
Der Arbeitgeber darf sich bei der Interessenabwägung auf die ihm ohne Weiteres nachvollziehbaren persönlichen Umstände der Beschäftigten beschränken, ohne die familiären Verhältnisse in ihren Einzelheiten näher erforschen zu müssen. Das ist ihm schon aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre seiner Beschäftigten verwehrt. Zudem kann er regelmäßig nicht zuverlässig feststellen, welche Anstrengung seine Mitarbeiter/-innen jeweils unternehmen bzw. unternehmen müssen oder können, um die Kinderbetreuung sicherzustellen.
Dass es anderen Mitarbeiterinnen gelingt, ihre arbeitsvertraglichen und ihre familiären Pflichten miteinander zu vereinbaren, rechtfertigt es nicht, diese durch die vermehrte Zuweisung ungünstiger Schichten zusätzlich zu belasten und gegenüber einer alleinerziehenden Arbeitnehmerin zu benachteiligen.
LArbG Mecklenburg-Vorpommern, 13.07.2023 – 5 Sa 139/22 – juris
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.
Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene rund 10-stündige Bahnfahrt eines als Chefarzt beschäftigten Arbeitnehmers zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen.
LArbG Mecklenburg-Vorpommern, 13.07.2023 – 5 Sa 1/23 – juris
Einem Antrag auf gerichtliche Einsetzung einer Einigungsstelle gemäß § 100 ArbGG fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn zuvor nicht der nach § 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG vorgesehene Versuch einer Einigung mit Vorschlägen zur Beilegung der Meinungs-verschiedenheit unternommen wurde. Ein hinreichender Versuch einer Einigung bedingt – zumindest grob umrissen – eine inhaltliche Konkretisierung, zu welchem Regelungsgegenstand welche Regelung gewünscht wird.
LArbG Nürnberg, 17.07.2023 – 4 TaBV 10/23 – juris
Während eines Arbeitskampfes kann die Durchführung von Notstandsarbeiten erforderlich sein. Notstandsarbeiten sind die Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen sollen. Zu den lebensnotwendigen Diensten gehört die Aufrechterhaltung einer Notversorgung der Bevölkerung in Krankenhäusern
Die Frage, welcher Notdienst im Einzelfall einzurichten ist, sich einerseits an dessen Zweck orientieren, der Notdienst ist andererseits aber auf das unerlässliche Maß zu reduzieren, um die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Arbeitskampffreiheit zur Geltung zu bringen. Der Notdienst dient nicht dazu, den Betrieb soweit wie möglich aufrechtzuerhalten, sondern es geht um eine am jeweiligen Auftrag der Daseinsvorsorge orientierte „Minimal-Versorgung“.
LAG Baden-Württemberg, 18.07.2023 – 4 SaGa 3/23 – juris
Mit Ausnahme der Zuschläge für die Arbeitsleistung während der tarifvertraglich definierten Nachtzeit können die Tarifvertragsparteien in den Grenzen des Willkürverbots frei regeln, für welche Erschwernisse sie in welcher Weise und Höhe einen Zuschlag gewähren wollen.
Bei der Willkürkontrolle wird von den Arbeitsgerichten nur geprüft, ob objektiver Willkür vorliegt, d.h. ob die Tarifnorm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll, objektiv unangemessen ist. Die nach dem Willen der Tarifvertragsparteien für die Ausgestaltung der Tarifregelung maßgeblichen Gründe müssen sich insoweit weder ausdrücklich noch durch Auslegung dem Tarifvertrag entnehmen lassen.
BAG, 20.07.2023 – 6 AZR 256/22 – juris
Eine Betriebsabteilung iSv. § 15 Abs. 5 KSchG ist ein räumlich und organisatorisch abgegrenzter Teil des Betriebes, der eine personelle Einheit erfordert, dem eigene technische Betriebsmittel zur Verfügung stehen und der einen eigenen Betriebszweck verfolgt.
Für die Annahme einer Betriebsabteilung des Vertragsarbeitgebers reicht es bei der Beschäftigung in einer Matrix-Struktur nicht bereits aus, dass nur eine einzelne Arbeitnehmerin aus einer betriebsübergreifenden Organisationseinheit im Betrieb des Vertragsarbeitgebers beschäftigt ist.
Matrix-Strukturen stellen vom Vertragsarbeitgeber unabhängig gestaltete Arbeitsorganisationen dar, die über das Vorliegen einer Betriebsabteilung nichts aussagen.
LArbG Niedersachsen, 24.07.2023 – 15 Sa 906/22 – juris
Der Manteltarifvertrag für die Chemische Industrie vom 24.06.1992 in der Fassung vom 22.11.2019 (MTV) sieht eine Übertragung des tariflichen Urlaubsanspruchs über den 31. März des auf das Kalenderjahr folgenden Jahres hinaus nicht – auch nicht für den Fall einer lang andauernden Erkrankung – vor.
Der Verfall des Anspruchs auf den tariflichen Mehrurlaub erfordert die Geltendmachung iSv. § 12 Abschn. 1 Nr. 11 S. 2 MTV bis zum 31. März des Folgejahres. Ein Arbeitnehmer macht seinen Urlaub gegenüber dem Arbeitgeber geltend, wenn er diesen auffordert, ihm Urlaub zu gewähren.
BAG, 25.07.2023 – 9 AZR 285/22 – juris.
Im Falle einer symptomlosen Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus liegt keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit iSv. § 3 EFZG vor.
Eine Quarantäneanordnung wegen einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus stellt ein persönliches, nicht ein objektives Leistungshindernis iSd. § 616 BGB dar.
Wegen der gesetzgeberischen Ausgestaltung als Ausnahmetatbestand und unter Berücksichtigung der Revisionsverteilung in einer Pandemie können bei einer behördlichen Quarantäneanordnung allenfalls wenige Tage einen verhältnismäßig nicht erheblichen Zeitraum iSd. § 616 S. 1 BGB darstellen. Hierbei sollte als Richtgröße eine Grenze von max. 5 Tagen angenommen werden.
Der Arbeitgeber ist für einen Anspruch aus § 56 Abs. 5 IfSG nicht passiv legitimiert (Anschluss an LAG Düsseldorf, Beschluss vom 10.10.2022 – 3 Ta 278/22). Dies führt – unabhängig von der Frage des eröffneten Rechtswegs – zur Unbegründetheit einer hierauf gestützten Klage gegen den Arbeitgeber.
Thüringer LArbG, 08.08.2023 – 1 Sa 41/23 – juris
Ein Arbeitnehmer, der sich in einer aus sieben Mitgliedern bestehenden privaten Chat-Gruppe in stark beleidigender, rassistischer, sexistischer und zu Gewalt aufstachelnder Weise über Vorgesetzte und andere Kollegen äußert, kann sich gegen eine dies zum Anlass nehmende außerordentliche Kündigung seines Arbeitgebers nur im Ausnahmefall auf eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung berufen.
BAG, 24.08.2023 – 2 AZR 17/23 – (BAG-Pressemitteilung Nr. 33/23)
Ein an COVID-19 erkrankter Arbeitnehmer ist infolge Krankheit objektiv an seiner Arbeitsleistung verhindert, wenn er sich in Quarantäne begeben muss, es sei denn, der Arbeitgeber kann von ihm verlangen, im Home-Office zu arbeiten. Die erforderliche Monokausalität iSv. § 3 Abs. 1 S. 1 PFZG ist gegeben, wenn die behördlich angeordnete Quarantäne Folge einer Arbeitsunfähigkeit ist.
Für den Verschuldensmaßstab des § 3 EFZG ist nicht auf § 56 Abs. 1 S. 4 IfSG abzustellen.
Ein Verschulden iSv. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG ist nicht anzunehmen, wenn die Corona-Infektion durch die Inanspruchnahme der empfohlenen Schutzimpfung nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können (Verschulden vorliegend vor dem Hintergrund des Infektionsgeschehens Ende Dezember 2021 verneint).
Ein vorläufiges Leistungsverweigerungsrecht nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG besteht nicht, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber die Fortdauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit anders als durch Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung nachweist.
LArbG Hamm, 24.08.2023 – 15 Sa 1033/22 – juris
Eine nicht bemittelte Partei darf in der Regel im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses auch einen Antrag auf Entfernung einer Abmahnung aus ihrer Personalakte stellen, ohne dass ihr dieses Prozessverhalten als mutwillig angelastet und ihr deshalb für diesen Antrag die Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt werden darf, sie hätte erst den Ausgang des Kündigungsschutzprozesses abwarten müssen.
LArbG Baden-Württemberg, 28.08.2023 – 15 Ta 9/23 – juris
Die Verweigerung des Zutritts des Betriebsratsvorsitzenden zum Betrieb des Arbeitgebers durch Ausspruch eines Hausverbots stellt eine Behinderung der Betriebsratsarbeit iSv. § 78 S. 1 BetrVG dar.
LArbG Frankfurt, 28.08.2023 – 16 TaBV Ga 97/23 – juris
Im Bestellungsverfahren gemäß § 100 ArbGG sind nur die streitenden Betriebspartner mehr zu beteiligen und nicht auch Gremien, die für das streitige Mitbestimmungsrecht ebenfalls zuständig sein könnten. Es ist dabei unerheblich, ob der Zuständigkeitskonflikt zwischen Betriebsratsgremien unterschiedlicher hierarchischer Ebenen besteht oder auf derselben hierarchischen Ebene zwischen zwei konkurrierenden und die Existenz des jeweils anderen bestreitenden Gremien.
Ist die rechtliche Existenz und damit die Beteiligtenfähigkeit eines Beteiligten im Streit, ist dessen Beteiligtenfähigkeit hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels zu unterstellen und zwar auch in Verfahren, deren Gegenstand nicht (primär) die Existenz der rechtsmittelführenden Stelle ist.
Der Vorsitzende eines Gesamtbetriebsrats ist nicht befugt, die Einladung zur konstituierenden Sitzung eines Konzernbetriebsrats einen Tagesordnungspunkt hinzuzufügen, über den erst in einer „weiteren Sitzung“ iSd. § 29 Abs. 2 S. 1 BetrVG befunden werden könnte. Die Tagesordnung kann auch in der konstituierenden Sitzung nicht einstimmig um einen weiteren Tagesordnungspunkt erweitert werden, wenn zur konstituierenden Sitzung nicht alle (möglichen) Delegierten erschienen sind. Die Beschlussfassung über einen solchen weiteren Tagesordnungspunkt bedürfte nämlich einer weiteren vorherigen Einladung des nunmehr frisch gewählten Vorsitzenden des Konzernbetriebsrats.
LArbG Baden-Württemberg, 11.09.2023 – 4 TaBV 4/23 – juris