Zollrecht

„Entziehen aus zollamtlicher Überwachung“ und Sanktionen (Zolllager)

So langsam kommen sie, die Urteile zum Unionszollkodex (UZK). Und zwar auch auf höchstrichterlicher Ebene wie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser hat sich in seinem Urteil vom 04.03.2020, Rs. C-655/18 mit der Festsetzung von Sanktionen bei Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Zolllagers auseinandergesetzt.

 

Sachverhalt

Vorgelegt wurden die zu klärenden Fragen von der bulgarischen Zollverwaltung. Diese hatte gegen Schenker als Betreiber eines Zolllagers Sanktionen festgesetzt, weil in das Zolllagerverfahren überführtes Sperrholz auf dem Transport zum Zolllager gestohlen wurde, wobei Schenker weder Anmelder zur Überführung in das Zolllagerverfahren noch Transporteur der Ware war.

Weil sich nicht alle vom Zolllagerverfahren erfassten Waren im Lager befanden, erließ die bulgarische Zollverwaltung einen Bescheid gegen Schenker, mit dem eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung festgestellt wurde, weil Schenker einen Teil der zum Zolllagerverfahren angemeldeten Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen habe. Auf der Grundlage dieser Feststellung erließ der Leiter der Zollbehörde Varna einen Bescheid, mit dem er gegen Schenker eine finanzielle Sanktion in Höhe von rund 12.225 € verhängte und zudem die Zahlung des dem Wert der fehlenden Waren entsprechenden Betrags in gleicher Höhe anordnete. Schenker klagte gegen diesen Bescheid und gewann.

Allerdings legte die Zollbehörde Beschwerde beim Gericht, dem Verwaltungsgericht Varna, ein. In diesem Beschwerdeverfahren wandte sich das Gericht mit folgenden Fragen an den EuGH:

  1. Ist Art. 242 Abs. 1 Buchst. a und b (UZK) dahin auszulegen, dass der Diebstahl von Waren, die in das Zolllagerverfahren übergeführt wurden, unter den konkreten Umständen des Ausgangsverfahrens eine Entziehung aus dem Zolllagerverfahren darstellt, die zur Verhängung einer finanziellen Sanktion wegen einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung gegen den Bewilligungsinhaber führt?
  2. Hat die Verpflichtung zur Zahlung des Wertes der Waren, die Gegenstand der Zollzuwiderhandlung – hier: Entziehung aus dem Zolllagerverfahren – sind, den Charakter einer verwaltungsrechtlichen Sanktion gemäß Art. 42 Abs. 1 und 2 (UZK)? Ist eine nationale Vorschrift, die eine solche Zahlung regelt, neben der Verhängung der finanziellen Sanktion zulässig? Entspricht diese Regelung den in Art. 42 Abs. 1 Satz 2 (UZK) enthaltenen Kriterien der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung für die Sanktionen bei Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften der Union?“

Diese Fragen hat der EuGH wie folgt beantwortet, wobei er die erste Frage wie folgt modifizierte:

  1. Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob die Verordnung Nr. 952/2013 (UZK) dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der im Fall des Diebstahls von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren gegen den Inhaber der Zolllagerbewilligung eine finanzielle Sanktion wegen einer Zuwiderhandlung gegen zollrechtliche Vorschriften verhängt wird.

 

1. Vorlagefrage

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Begriff ‚Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung‘ im Sinne des UZK dahin zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, wenn auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der gemäß den zollrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Wie vom Gerichtshof bereits entschieden, liegt eine ‚Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung‘ im Sinne dieser Verordnung u.a. dann vor, wenn – wie im vorliegenden Fall – Waren entwendet werden, die sich in einem Nichterhebungsverfahren befinden.

In Bezug auf den für eine solche Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung Verantwortlichen sieht Art. 242 Abs. 1 Buchst. a (UZK) vor, dass der Inhaber einer Bewilligung dafür verantwortlich ist, dass die Waren im Zolllagerverfahren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden. Insoweit müssen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH für die Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung nur objektive Voraussetzungen erfüllt sein, wie das körperliche Fehlen der Ware am zugelassenen Verwahrungsort zu dem Zeitpunkt, zu dem die Zollbehörde die Beschau dieser Ware vornehmen möchte. Also handelt es sich bei der Verantwortung des Inhabers einer Zolllagerbewilligung im Fall der Entziehung von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung um eine objektive Pflicht, die daher unabhängig vom Verhalten des Bewilligungsinhabers oder Dritter ist.

Mangels Harmonisierung der unionsrechtlichen Vorschriften auf dem solche Zuwiderhandlungen betreffenden Gebiet sind die Mitgliedstaaten befugt, geeignete Sanktionen zu erlassen, um die Beachtung des Zollrechts der Union sicherzustellen. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der UZK dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Fall des Diebstahls von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren gegen den Inhaber der Zolllagerbewilligung eine geeignete finanzielle Sanktion wegen einer Zuwiderhandlung gegen zollrechtliche Vorschriften verhängt wird.

2. Vorlagefrage

Aus der Vorlageentscheidung des VG Varna geht hervor, dass nach Art. 234a Abs. 1 ZM im Fall einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung eine finanzielle Sanktion in Höhe von zwischen 100 % und 200 % des Wertes der entzogenen Waren zu verhängen ist und nach Art. 234a Abs. 3 ZM in Verbindung mit Art. 233 Abs. 6 ZM der für diese Entziehung Verantwortliche einen dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrag zu entrichten hat.

Die Zollbehörde Varna und die bulgarische Regierung sind der Ansicht, dass es sich bei der letztgenannten Verpflichtung nicht um eine Sanktion im Sinne von Art. 42 Abs. 1 (UZK), sondern um eine Maßnahme im Sinne von Art. 198 Abs. 1 Buchst. a UZK handele, wonach die Zollbehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen müssten, einschließlich der Einziehung und Veräußerung oder Zerstörung, ‚um die Waren zu verwerten‘, die der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien. Die Aufzählung der in dieser Vorschrift angeführten Maßnahmen sei nicht abschließend, sodass die Zahlung des Warenwerts, wenn die physische Anwesenheit der Waren von den zuständigen Behörden nicht festgestellt werden könne, ein der Einziehung dieser Waren zugunsten des Staates entsprechendes Mittel im Sinne dieser Vorschrift darstelle, ‚um die Waren zu verwerten‘.

Dieser Auslegung folgt der EuGH nicht. Art. 198 (UZK) befindet sich nämlich in Titel V Kapitel 4 UZK (‚Verwertung von Waren‘). Demnach betreffen die in diesem Kapitel zusammengefassten Vorschriften ausschließlich diejenigen Maßnahmen, die erlassen werden, ‚um die Waren zu verwerten‘, deren physische Anwesenheit von den zuständigen Behörden festgestellt werden konnte. Diese Auslegung wird durch den 45. Erwägungsgrund des UZK gestützt, wonach gemäß dieser Verordnung u.a. die Vorschriften über die Zerstörung oder sonstige Verwertung von Waren durch die Zollbehörden auf Unionsebene festgelegt werden sollen. Die Zahlung des Wertes der betroffenen Waren kann jedoch nicht als ein Mittel zur Verwertung dieser Waren angesehen werden, das somit zur Erreichung dieses Ziels dienen würde. Folglich qualifiziert das vorlegende Gericht die Verpflichtung des für die Zuwiderhandlung Verantwortlichen, über eine finanzielle Sanktion hinaus einen dem Wert der der zollamtlichen Überwachung entzogenen Waren entsprechenden Betrag zu zahlen, zutreffend als Sanktion.

Nach Art. 42 Abs. 1 (UZK) müssen die von den Mitgliedstaaten für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten. Insbesondere dürfen die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein.

Im vorliegenden Fall erscheint eine Sanktion, die in der Verpflichtung besteht, einen dem Wert der der zollamtlichen Überwachung entzogenen Waren entsprechenden Betrag zu zahlen, nicht angemessen; dies gilt unabhängig davon, dass diese Sanktion zusätzlich zu der des Art. 234a Abs. 1 ZM verhängt wird. Eine Sanktion in dieser Höhe übersteigt die Grenzen dessen, was erforderlich ist, um u.a. sicherzustellen, dass die für das Zolllagerverfahren zugelassenen Waren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden. Durch die Sanktionen im Sinne von Art. 42 (UZK) sollen nicht mögliche betrügerische oder widerrechtliche Handlungen, sondern Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften geahndet werden. Außerdem steht, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, eine Sanktion wie die des Art. 234a Abs. 3 ZM in Verbindung mit Art. 233 Abs. 6 ZM in keinem angemessenen Verhältnis zu der Zollschuld, die dadurch entsteht, dass die in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen werden.

Nach alledem hat der EuGH auf die zweite Frage geantwortet, dass Art. 42 Abs. 1 UZK dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der der Inhaber der Zolllagerbewilligung im Fall einer Entziehung der in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung über eine finanzielle Sanktion hinaus zur Zahlung eines dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrags verpflichtet ist.

Folgen für die Praxis:

Leider bestätigt der EuGH in Bezug auf die Zollschuldentstehung, dass der Bewilligungsinhaber eines Zolllagers für Pflichtverletzungen haftet, auch wenn ihn kein Verschulden trifft. Fraglich ist, ob der EuGH hätte anders entscheiden können, da Art. 242 UZK entsprechende Regelungen enthält.

Allerdings sieht Art. 242 UZK eine Gesamtschuldnerschaft vor. Fraglich ist also, ob diese nicht eine Rolle in dem Vorlageverfahren hätte spielen müssen. Wie sich dem Urteil des EuGH entnehmen lässt, scheint diese zumindest in dem (ersten) Verfahren gegen den Bescheid eine Rolle gespielt zu haben. Insoweit hatte das Gericht entschieden, dass Schenker nicht hafte, weil es keinen Einfluss auf den Diebstahl gehabt habe. Direkt (nur) den Transporteur in Anspruch zu nehmen, auch in Bezug auf etwaige Sanktionen, wäre also unter dem Gesichtspunkt des Auswahlermessens vertretbar gewesen.

So verbleibt Schenker nunmehr lediglich die Möglichkeit, den Frachtführer zivilrechtlich auf Zahlung der festgesetzten Sanktion (sowie etwaiger Zölle) in Haftung zu nehmen, wobei der Erfolg des Regresses u.a. von der vertraglichen Ausgestaltung abhängen dürfte. Damit lassen sich folgende Feststellungen dem Urteil des EuGH entnehmen, die insbesondere für „Zolllagerbetreiber“ wichtig sind:

  1. Der Bewilligungsinhaber eines Zolllagers haftet für die ordnungsgemäße Abwicklung des Zolllagers und zwar „verschuldensunabhängig“. Allerdings „lediglich“ als Gesamtschuldner neben dem Verfahrensinhaber (was eine Rolle bei der Abwehr von Zoll- und Bußgeldbescheiden dringend zu beachten ist).
  2. Zwecks Schadensminimierung für den Fall der Inanspruchnahme durch den Zoll (Zölle, Sanktionen) bedarf es vertraglicher Vereinbarungen mit Dritten / weiteren Dienstleistern, die in die Abwicklung des Zolllagers eingebunden werden und zwar von dem Verbringen der Ware in die EU an, also insbesondere Zolldeklaranten und Frachtführer (mangels Einfluss auf die tatsächlichen Umstände der Verzollung / des Transports der Fall ist).

Auch die deutsche Zollverwaltung tendiert dazu, bei Pflichtverletzungen Bußgeldverfahren einzuleiten und Sanktionen festzusetzen. Mangels Harmonisierung der europäischen Sanktionen bei zollrechtlichen Verstößen gelten insoweit (noch) die deutschen Bußgeldtatbestände.   Das Urteil des EuGH stellt klar, dass die Verhängung dieser angemessen sein muss.

 

By the way: Aktuell gibt es ein viel besseres Argument, sich in Deutschland gegen die Festsetzung von Bußgeldern zu wehren: die Bußgeldtatbestände wurden bislang überwiegend nicht an den UZK angepasst. Eine Sanktionierung auf Grundlage der „alten“ Bußgeldtatbestände, die überwiegend noch auf den ZK und die ZK-DVO verweisen, dürfte daher dem im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden „Bestimmtheitsgrundsatz“ widersprechen („Nulla poena sine lege“) – so dass es auf die Frage der Angemessenheit gar nicht ankommt.

 

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